Die Alta Via Val di Susa, die es einem innerhalb
einer Woche ermöglicht, mit stets phantastischer Aussicht auf Rocciamelone,
Monviso oder Vanoisegletscher vom Oberen ins Untere Susatal, von den
Cottischen in die Grajischen Alpen zu gehen, dabei den wunderschönen
Lac du Mont Cenis zu umrunden und vom Rifugio Cà d'Asti aus den
höchste Wallfahrtsort der Alpen zu besuchen, müsste eigentlich
überlaufen sein. Aber weit gefehlt: wir begegnen nur sehr wenigen
Wanderern!
Nirgends in den piemontesischen Alpen sind
die Reliefkontraste so ausgeprägt wie im Susatal, lediglich 7 Kilometer
sind es vom 3538 Meter hohen Rocciamelone bis hinunter ins Tal, das
gerade mal auf 500 Meter Höhe liegt!
Schwindelfrei und trittsicher sollte man also
schon sein, wenn man sich auf die Alta Via Val di Susa begibt.
Zum Teil noch recht gut erhaltene, zu
militärischen Zwecken angelegte Wege, die später durchaus
auch von Partisanen in ihrem Kampf gegen deutsche Wehrmacht und italienische
Faschisten genutzt wurden, führen durch das unmittelbare Grenzgebiet
zwischen Italien und Frankreich. Heute muss man schon die Karte zu Rate
ziehen, um exakt bestimmen zu können, ob man sich gerade in dem
einen oder dem anderen Staat befindet - aber Ende des 19. Jahrhunderts
wurde die Region mit Höhenforts in strategisch hervorragender Lage
überzogen. Sie verkamen später zu Investitionsruinen, weil
beide Länder im ersten Weltkrieg auf gleicher Seite kämpften.
Die Alta Via beginnt in Bardonecchia
im Alta Valle Susa' zu Füßen der Punta Fréjus
(2934m). Der kleine Ort wurde dadurch bekannt, dass ein findiger örtlicher
Straßenbauunternehmer, Guiseppe Medail, 1832 errechnete, dass
genau hier die schmalste Stelle des gewaltigen Bergmassivs ist, das
das Arctal in Savoyen und das Susatal im Piemont voneinander trennt
- und dass man einen Tunnel bauen könnte, um die beschwerlichen
Wege über die Berge zu vermeiden. Als am 17. September 1871 der
erste Zug durch den neuen Fréjustunnel fuhr, jubelte die Weltpresse,
nicht zuletzt, weil sich damit der Postweg von England nach Indien verkürzte.
Damit begann die neuzeitliche Nutzung des Tales als Transitschneise
(die
bereits bei Römern und Pilgern beliebt war) und
setzte eine Entwicklung in Gang, bei der der Bevölkerung des Tales
das Jubeln vergeht.
Davon merkt man allerdings auf den einsamen
Wegen der Alta Via recht wenig - schnell ist der Ort verlassen
und unterhalb des auf 2800 Meter Höhe liegenden Forte Jafferau
werden die Alpgebiete von Valfredda erreicht, wo der Aufstieg zum Passo
Galambra beginnt. In bizarr anmutender beige-grau-brauner Gerölllandschaft
wird dort auf 3078m der höchste Punkt der Wanderung - abgesehen
vom optionalen Aufstieg zum Gipfel des Rocciamelone - überschritten.
Die Gletscher, die auf den Karten noch verzeichnet sind, sucht man vergebens,
sie sind der dramatischen Verschiebung der Nullgradgrenze zum Opfer
gefallen - ganz augenscheinlicher Beleg einer markanten Klimaänderung.
Durch das Galambra-Becken und über den
Passo Clopacà setzt sich der Weg fort
- Ausblick wahlweise auf das schneebedeckte Vanoisemassiv im Norden,
den Moviso, Symbolberg des Piemonts schlechthin und liebevoll Re
di Pietra' genannt, im Süden oder den Rocciamelone, der immer näher
rückt.
Die Alta Via entspricht nun dem Weg, den Waldenser
auf ihrem Glorioso Rimpatrio' im August 1689 zurückgelegt
haben. Dieser 14-tägige Marsch aus dem Exil in der protestantischen
Schweiz zurück in ihre Heimattäler in den Cottischen Alpen
ist zur Legende geworden. Dabei mussten die Waldenser - von der Inquisition
verfolgt und als 'Ketzer' gebranntmarkt, seit sich die der reinen apostolischen
Lehre verpflichtete Laien-Reformbewegung 1532 offiziell der Reformation
angeschlossen hatte - noch bis 1848 warten, um volle Religionsfreiheit
zu erlangen.
Am Col de Clapier beginnt ein etwas
längerer Abstecher über heute (!) französisches Territorium,
und hier soll auch Hannibal im Jahre 218 v. Chr. die Alpen überquert
haben. Die wenig präzisen Aufzeichnungen des Griechen Polybios
und seines römischen Kollegen Titus Livius sind jedoch so auslegungsfähig,
dass auch immer wieder andere Pässe ins Spiel gebracht werden.
Ganz konkret aber ist der phantastische Blick
über das Susatal bis hin zur berühmten Sacra San Michele,
bevor es - nun über saftig grüne Wiesen - am Lac du Mont Cenis
entlang weiter geht. Das im Jahr 814 errichtete Hospiz wurde durch den
Stausee geflutet, auch die Bahnhöfe der Eisenbahnlinie über
den Mont Cenis sind längst verschwunden. Aber die um den See herum
gebauten Höhenforts aus dem 19. Jahrhundert - eines davon mittlerweile
zum Museum ausgebaut - sind noch erhalten.
Nun hoch über dem Unterem Susatal,
dem 'Bassa Valle', geht es in Richtung Rifugio Cà d'Asti, von
wo aus der Aufstieg zum Rocciamelone (3.538m) begonnen werden kann.
Seit Bonifacio Rotario d'Asti im Jahr 1358 den Gipfel bestieg, hat sich
einiges verändert - der Weg hinauf zu Kapelle und alles überragender
bronzenen Madonnenstatue wurde für die Anstürme der Pilger
zu diesem höchsten Wallfahrtsort der Alpen teilweise seilgesichert.
Oben bietet sich jetzt endlich das berühmte 360-Grad-Panorama,
und es wird das Geheimnis gelüftet, was in nördlicher Richtung
zum Vorschein kommt: Die Sicht reicht an klaren Tagen bis zu Mont Blanc
und Gran Paradiso!
Und dann wird gegen Ende noch einmal alles
aufgeboten, was man sich auf einer hochalpinen Wanderung wünscht:
einsamste Wege mit faszinierender, leicht schwindelerregender Aussicht
in das über 2000 Meter tiefer liegende Susatal mit der immer näher
rückenden Sacra San Michele und eine Gratpassage zwischen dem Colle
della Croce di Ferro und dem Colle delle Coupe. Wie schon fast gewohnt,
überragt auch aus dieser Perspektive der Monviso die Gipfelkette
von Monte Orsiera, Punta Cristallina und Monte Rocciavre.
Die komplette Wegbeschreibung zur
Alta Via Val di Susa, Hinweise zu Übernachtungsmöglichkeiten
(denn unter freiem Himmel muss auf diesem Weg niemand übernachten!)
- aber auch viele interessante Hintergrundinformationen findet sich
in unserem Wanderführer
'Alta Via Val di Susa'.
Anmerkung:
Zwischen dem Rifugio Levi-Molinari und dem Colle di Croce di Ferro verläuft
die Via Alpina (von einer kleinen Ausnahme abgesehen) auf der Alta Via.
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